STALAG VI A
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STALAG VI a
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8. März 2000

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    Dr.H. Fritsch


12. Die Gefangenen nach der Befreiung

Die Übergabe des Stalag VI A erfolgte am Nachmittag des 14. April. Die Amerikaner ließen nicht zu, daß Kriegsgefangene durch das Lagertor in die Stadt liefen. Durch ein Loch im Zaun des Lagers strömten jedoch sofort Gefangene zur Stadt. Als an anderen Stellen Gefangene in kleinen Gruppen begannen, die Drahtumzäunungen durchzuschneiden, stellten die Amerikaner zwei Züge Infanterie sowie leichte Panzer ab, um die Masse der Gefangenen an weiteren Ausbrüchen zu hindern. Die meisten der Entwichenen wurden von den Amerikanern mit Hinweis auf Essen im Lager oder mit Gewalt zurückgetrieben.
Die Internierung geschah auch zur eigenen Sicherheit der Gefangenen, da sie - fast verrückt vor Hunger - selbst über Tierkadaver herfielen und das von ihnen gierig Verschlungene meistens sofort erbrachen. Übergriffe gab es selbstverständlich auch im Lager: befreite sowjetische Kriegsgefangene plünderten die Küche, und die Magazine wurden durchsucht.
Als Augenzeuge schildert Nikolai Gubarew die ersten Tage nach der Übergabe des Lagers: „Sofort nach der Befreiung des Lagers begannen die Arbeiten zur Rettung der Gefangenen. Die Leichen der Gestorbenen mußten mit amerikanischen Armeefahrzeugen aus dem Block 5 des Lagers herausgeschafft und zur Identifizierung auf eine Wiese vor dem Lager gelegt werden. Wer von den Gefangenen noch gehen konnte, brach allerdings sofort aus dem Lager aus und suchte in den Kellern der umgebenden Häuser nach Lebensmitteln. Mit den unmöglichsten Bekleidungsstücken angetan, wurden dann die erbeuteten Lebensmittel ins Lager zurückgebracht. Im Nu gingen an allen Ecken und Enden des Lagers Feuer auf, auf denen die Speisen zubereitet wurden.

Die ehemaligen Kriegsgefangenen bereiten nach der Lagerübergabe vor Block 7 ihre zusätzliche Mahlzeit, 28.4.1945 (National Archives in College Park, Maryland/USA
Eine Gruppe amerikanischer Ärzte und Sanitäter versorgte die kranken Gefangenen in schnell errichteten Zelten. Wasser wurde wieder ins Lager geschafft und ein kleines Lebensmitteldepot zur Stillung des ärgsten Hungers angelegt. Die Küche begann wieder zu arbeiten, aber nur wenige fanden sich zum Essen ein. Die meisten Gefangenen genossen ihre Freiheit. Sie hatten nicht damit gerechnet, daß die Amerikaner in der Lage wären, so schnell Verpflegung heranzuschaffen. So mußten diese Gefangenen von den Amerikanern direkt wieder eingefangen und ins Lager zurückgebracht werden.
Sehr schnell gelang es, die kranken Gefangenen in Zelten unterzubringen und auf die verschiedenen Lazarette der Umgebung zu verteilen. Besonders schwache und schwerkranke unter ihnen wurden gewaschen, desinfiziert und zuerst abtransportiert. Mehr als 1.000 Gefangene konnten so an einem Tag aus Block 5 und 7 in Lazarette überführt werden. Alle Gefangenen erhielten neue amerikanische Uniformen und konnten die Lumpen wegwerfen, mit denen sie bekleidet waren. Ein sowjetischer und ein amerikanischer Kommandant wurden für das Lager bestimmt. Sie machten sich daran, Ordnung und Disziplin im Lager wiederherzustellen.“
Da in den letzten Kriegstagen das Essen unregelmäßig und nur in geringen Mengen ausgegeben worden war, waren die Gefangenen völlig ausgehungert und fielen gierig über alles Eßbare her. Diejenigen, die aus dem Lager fliehen konnten, plünderten Bauernhöfe und Häuser der Umgebung, schlachteten Tiere im Stall und auf der Weide ab, stahlen Kleidung, Matratzen, Radios, Uhren usw. In einigen Fällen kam es auch zu Gewaltanwendungen gegenüber Deutschen. Die Amerikaner sahen sich schließlich gezwungen, strengere Maßnahmen gegen die Ausgebrochenen zu ergreifen.
Die Amerikaner fertigten einige Tage nach der Übergabe eine nach Nationalitäten aufgegliederte Aufstellung der Gefangenen: 19.411 Russen, 2.753 Franzosen, 548 Belgier, 190 Italiener, 140 Polen, 107 Jugoslawen, 99 Amerikaner, 30 Rumänen, 14 Griechen , 4 Tschechen, 4 Briten - insgesamt 23.302 Gefangene. Von ihnen wurden wegen Tuberkulose, Typhus, Ruhr oder Unterernährung 9.000 als Lazarettfälle eingestuft.
In den ersten Tagen nach der Übergabe des Lagers starben noch 816 Gefangene an Krankheit oder Entkräftung. Aus erzieherischen Gründen ordneten die Amerikaner an, daß NS-Mitglieder aus Hemer sich bei einem Gang durch das Lager ein einprägsames Bild machen sollten.
Die Amerikaner sorgten schnell für bessere hygienische Verhältnisse: Die ehemaligen Gefangenen wurden auf mehr Räume verteilt; die Tbc-Baracken und die Kleidung der Tuberkulose-Kranken wurden unter Aufsicht verbrannt, und lokale Nazi-Größen mußten das Lager von Unrat reinigen. Die Versorgung der Kranken wurde geregelt, indem diese auf mehrere Krankenhäuser bzw. Lazarette in der Region verteilt wurden. Der Gesundheitszustand der Überlebenden besserte sich schneller als erwartet, da viele Krankheiten auf Mangel beruhten, und die Amerikaner für reichliche und gute Verpflegung sorgten.
Mit der Befreiung aus den Lagern wendete sich das Los für viele Kriegsgefangene, vor allem aus Osteuropa, nicht schlagartig zum Guten. Zusammen mit vielen zivilen Fremdarbeitern sowie ausländischen Insassen von Konzentrations- und Internierungslagern wurden sie zu „Displaced Persons“, d. h. Menschen, die bei Kriegsende “am falschen Platz“ waren und von den Alliierten auf reichsdeutschem Gebiet oder in besetzten Gebieten aufgefunden wurden. Wenngleich der Großteil der DPs verhältnismäßig zügig in die Heimatländer zurückgeführt werden konnte, gestaltete sich die Zukunft der DPs aus Osteuropa zu einem Problem, das die Briten und Amerikaner nicht im humanitären Sinne lösen konnten bzw. wollten. Politische Zielsetzungen und Rücksichtnahmen bestimmten lange Zeit das Handeln der Siegermächte. Insgesamt gab es im Mai 1945 auf dem Kontinent 13,4 Millionen verschleppte Personen. Jedoch ging trotz des allgemeinen Chaos in den ersten Nachkriegsmonaten und der desolaten Verkehrssituation bis Ende 1945 die Rückführung der DPs schneller vonstatten als anzunehmen war.

Appell der ehemaligen Gefangenen zur Feier des 1. Mai 1945. Die Kleidung der Gefangenen war häufig mit der Kennzeichnung „SU“ für „Sowjetunion“ versehen (Privatarchiv Joseph D. Karr, Rochester Hills, USA)
Am „erfolgreichsten” waren die Sowjets mit der Rückführung ihrer Staatsbürger. Ab 12. Juni 1945 strömten für mehrere Tage täglich mehr als 100.000 sowjetische DPs zu den Registrierungsstellen, so daß bis zum 30. September 1945 aus dem westlichen und dem sowjetischen Einflußbereich jeweils über die Hauptsammelstelle Frankfurt/Oder weit mehr als 2 Millionen Sowjets repatriiert worden waren, zusammen etwa 5 Millionen. Dabei mißachtete die UdSSR den Artikel 1 der UN-Satzung, der die freie Wahl des Aufenthaltsortes garantiert. Die Regierung zwang auch Nicht-Rückkehrwillige zur Rückkehr in die UdSSR. Die Westmächte glaubten, sich an die entsprechende Bestimmung des Abkommens von Jalta halten und auch die zwangsweise Rückkehr sowjetischer Bürger dulden zu müssen. Dabei mußten sie wissen, daß tatsächliche oder angebliche Kollaborateure mit den Deutschen bei ihrer Rückkehr ein schlimmes Schicksal erwartete. Petitionen und Widerstand Betroffener wurden von den Westalliierten wenig beachtet. Vor allem Balten, aber auch Ukrainer mußten bei einer Zwangsrepatriierung mit unkorrekter Behandlung, Zwangsarbeit oder Tod rechnen.
Die aus langer Gefangenschaft Zurückkehrenden erwartete kein leichtes Schicksal. Nach Überprüfung durch sowjetische Behörden in sowjetischen Lagern konnte nur ein Drittel der ehemaligen Gefangenen sofort zu den eigenen Familien zurückkehren. Die anderen, ungefähr eine Million, wurden in Arbeitsbataillone, besondere Siedlungsgebiete und Arbeitsstraflager (Gulags) deportiert. Die harte Behandlung der repatriierten sowjetischen Gefangenen hatte ihre Wurzeln noch im ersten Kriegsjahr. In Stalins Befehl Nr. 270 vom 16. August 1941 wurde die Ergebung an den Feind oder die Flucht vor ihm generell zu Desertion und Brechen des Fahneneides erklärt und mit Erschießen auf der Stelle bedroht. In den Abschnitten eins und drei des Befehls waren eindeutig die Kommandeure aller Einheiten und „Politkader“ als Betroffene gemeint; weniger klare Formulierungen im zweiten Abschnitt ließen eine Ausweitung auf Mannschaftsdienstgrade zu.
Dieser Geheimbefehl und die aus ihm resultierende staatliche Propaganda führten dazu, daß jede Gefangenschaft ohne Rücksicht darauf, wie sie zustande gekommen war, als Desertion und Bruch des Fahneneides galt. In konsequenter Verfolgung dieser Auffassung wurden die Rückkehrer aus Deutschland - die Zahlenangaben schwanken zwischen 1.638.000 und 2,5 Millionen - von der politischen Geheimpolizei (NKWD) überprüft und oft auch bestraft. Bei Beginn der Repatriierung im Zuge des Vormarschs der Roten Armee kamen zunächst fast alle befreiten Offiziere sofort in Sonderlager des NKWD „zur Überprüfung“. Mannschaften und Unteroffiziersdienstgrade wurden in Sammellagern der Roten Armee überprüft und - je nach Ergebnis - wieder in die Armee eingegliedert oder weiter überprüft oder verurteilt. Auch wer nicht, wie die meisten Offiziere, erschossen oder in Arbeitslager deportiert wurde, blieb bis in die neueste Zeit stigmatisiert und lange Zeit bei staatlichen Leistungen benachteiligt. Unter Chruschtschow wurden allerdings die Heimkehrer zumindest formal den siegreichen Frontsoldaten gleichgestellt und für viele die Gefängnisse geöffnet. Im Gefolge von Gorbatschows Glasnost und Perestroika kam es 1987 zu öffentlichen Diskussionen zu diesem Tabu-Thema und zu Forderungen nach Rehabilitierung der ehemaligen Kriegsgefangenen.
Volles Recht ist den im Krieg in Gefangenschaft Geratenen immer noch nicht überall widerfahren, für die meisten kam ohnehin jede Rehabilitierung zu spät.
Auch diejenigen, die vom Stalin-Staat oder dem neuen Regime in Polen unbehelligt blieben, hatten schwere Jahre vor sich: In die Familien hatte der Krieg große Lücken gerissen, und Heimatstädte oder Dörfer waren zerstört.
Das besondere Schicksal der Gefangenen des Stalag VI A läßt sich zumindest bis September 1945 verfolgen. Nach der Befreiung Mitte April kümmerten sich die Amerikaner um die Kriegsgefangenen, später die Briten und Sowjets. Die Ausländer, ehemalige Kriegsgefangene und Zivilarbeiter, besonders die aus Osteuropa, wurden noch längere Zeit in Kasernen und Lagern festgehalten. Die sowjetischen DPs lagen zum großen Teil im ehemaligen Stalag, das jetzt den Namen „Camp Roosevelt” trug; Sowjets und Italiener waren auch in der Seydlitz-Kaserne an der Stadtgrenze von Iserlohn nach Hemer-Westig interniert. Zwar wurden alle gut versorgt, doch die Amerikaner, später die Briten, neigten dazu, die Sowjets und Polen als Slawen und damit als minderwertig zu betrachten.
Für die Repatriierung der Sowjets wurde Hemer für kurze Zeit ein regional bedeutsames Rückführungszentrum. Aus der Umgebung wurden die sowjetischen DPs nach Hemer gebracht, im Camp Roosevelt vom Repatriierungskommando erfaßt und zu großen Transporten nach Frankfurt/Oder zusammengefaßt. Bis Ende August 1945 war das DP-Lager „Camp Roosevelt“ von den letzten russischen Armeeangehörigen geräumt. Die Britische Rheinarmee übernahm die Gebäude und richtete dort zur Internierung von Personen, die in das verbrecherische Regime des Nationalsozialismus verstrickt waren, das Internierungslager (Civil Internment Camp) Nr. 7 ein. Dieses Lager bestand bis Ende September 1946 und hatte eine Belegung von 2.000 bis 3.500 Personen. In der Hemeraner Rückführungsstelle wurde die Repatriierung der ehemaligen Gefangenen wie überall streng und notfalls mit Gewalt und Hilfe der Westalliierten durchgeführt. Wie fast alle sowjetischen DPs wurden auch die Gefangenen des Stalag VI A zuerst in ein Überprüfungslager in Frankfurt/Oder transportiert.
Nach der Übergabe des Stalag VI A wurden die gesamten Akten des Lagers von den Amerikanern übernommen, abtransportiert und wahrscheinlich auf die verschiedenen Nationalitäten aufgeteilt. Die Überprüfungspraxis in Frankfurt/Oder läßt vermuten, daß die Akten der sowjetrussischen Kriegsgefangenen von dem in Hemer ansässigen sowjetischen Kommando an das Überprüfungslager in Frankfurt geschickt wurden und alles darin gegebenenfalls Belastende gegen die ehemaligen Gefangenen verwendet wurde.
Von den insgesamt 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die während des Krieges in deutsche Hand gerieten, kamen 3,3 Millionen in deutschem Gewahrsam um. Die Befreiung aus deutschen Kriegsgefangenenlagern erlebten von ihnen etwa 2,4 Millionen, nach neueren russischen Angaben etwa 1,8 Millionen. Das entspricht einer Sterberate von 58 % bei den Gefangenen aus der UdSSR, gegenüber höchstens 5 % bei den in deutschen Lagern gefangenen Briten und Franzosen. Zum Vergleich: Von den deutschen Gefangenen in der Sowjetunion kamen etwa: 36% um.